Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne
Die Macht der Mythen und ihr Missbrauch im Nationalsozialismus und rechter Esoterik
Auch der "Rabenclan" bietet eine eher aufgeklärte Position modernen Heidentums, die nicht mehr auf die nordeuropäischen Traditionen beschränkt ist, sondern sich für polytheistische, animistische und naturreligiöse Überlieferungen weltweit interessiert. "Wir verstehen darunter", so heisst es auf der Internetseite dieser Vereinigung (www.rabenclan.de), "jenen Fundus an Fertigkeiten, Ritualen, Sitten, Institutionen, Aussagensystemen, Ethos und Kosmologien, der in polytheistischen, animistischen, sogenannnten naturreligiösen und neopaganen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen enthalten ist - unabhängig davon, ob diese vergangen oder heute noch existent sind. Dieses Wissen gehört als Erfahrungsschatz zum gemeinsamen Erbe der Menschheit, und ist es wert, erforscht und gepflegt zu werden." In umfangreichen Aufsätzen haben sich Autoren des "Rabenclan" auch mit der Ariosophie sowie mit aktuellen völkischen Vereinnahmungen heidnischer Denkformen auseinandergesetzt, wodurch ein vielschichtiges, auch im Internet abrufbares Archiv entstand, das die eigene Position untermauert und die eindrucksvolle geistige Spannweite dieser Vereinigung dokumentiert.
Mehrfach im Jahr werden Feste veranstaltet, die wichtige Etappen im Jahreslauf markieren (Samhain, Beltaine, Imbolc), auf denen spielerisch in Lesungen, Ritualen, Musik- und Theaterdarbietungen der "heidnische Kosmos" erkundet wird. Dieser Kosmos kann uns - so die Annahme der Rabenclan-Mitglieder - an verlorengegangene ethische Maximen und Fertigkeiten erinnern, die vielleicht auch für das moderne Leben nützlich sein könnten. Man diskutiert etwa darüber, wie die für naturreligiöse Traditionen eigentümlichen personalen Beziehungen zu Pflanzen, Tieren und Gegenständen zu einem guten und gelungenem Leben beitragen oder stellt generelle Fragen zum Verhältnis von "Göttern und Menschen": Was macht Götter aus? Warum haben Götter Schwächen und Grenzen? Was heißt es, wenn Götter ihre Grenzen überschreiten? Wie hängt das mit dem zusammen, wenn Menschen ihre Grenzen überschreiten?
Im Verhältnis zu anderen neuheidnischen Gruppen fällt beim "Rabenclan" eine stärkere intellektuelle Durchdringung der Materie auf. Man setzt - wenn man das so vereinfachend sagen kann - eher auf die pragmatische als die metaphysische Dimension des Spirituellen. Erkenntnistheoretische und religionsgeschichtliche Überlegungen umkreisen etwa unseren Naturbegriff oder das kulturell jeweils ganz verschiedene Verhältnis von Menschen zu einem oder mehreren Göttern. Diese Themen werden z.T. auch öffentlich, etwa in Rundfunkveranstaltungen mit Vertretern der Kirchen und der akademischen Wissenschaft diskutiert.
Zitat aus:
Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne - Die Macht der Mythen und ihr Missbrauch im Nationalsozialismus und rechter Esoterik, erweiterte und überarbeitete Neuauflage, Drachenverlag, Klein Jasedow, 2009, S.143f.