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Lambing Attilas Liebe
28.04.2017, 09:55

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Attilas unglückliche Liebe
Ein neu entdecktes Epos aus dem Sagenkreis der Nibelungen
wirft Fragen über unsere Geschichte auf
Julio Lambing, Juni 2011
Alle Rechte beim Autor




"Wieder bist du gekommen, Attil, wieder bemühst du dich, mein Blut zu bewegen. Ich liebe dich nicht. Ich brauche dich nicht."



Der Sagenkreis der Nibelungen gilt seit dem Mittelalter als einer der bedeutendsten Heldenepen im deutschen und skandinavischen Raum. Zahllose Dichter haben den Stoff seit Jahrhunderten aufgegriffen, seit der Romantik hat er eine besondere kulturelle Verbreitung erfahren. Der strahlende Held Siegfried, Königin Kriemhild, der Herrscher der Hunnen Etzel, Hagen von Tronje haben die moderne Filmindustrie ebenso mit Stoffen beliefert wie sie Maler, Komponisten, Bands und Sänger inspiriert haben. Bezüge zu den Erzählungen finden sich in der norwegischen Thidrekssaga ebenso wie im altnordischen Atlilied, in der isländischen Edda wie im englischen Beowulf-Gedicht. In den deutschsprachigen Ländern war vor allem das mittelhochdeutsche Nibelungenlied einflussreich. Unzählige Wissenschaftler, Gelehrte und Intellektuelle haben es historisch wie sprachlich zu ergründen versucht, politische Ideologen für ihre Agenda missbraucht. Für die Deutschen wurde es zeitweise gar zum Nationalepos ausgerufen, es sollte deutsches Wesen und Schicksal illustrieren.

Doch die kulturelle Ausstrahlung des Nibelungenliedes beeinflusste wesentlich mehr als nur die Konstruktion eines Nationalwesens. Nicht nur, daß seine Quellen als ureuropäischer Kulturschatz verstanden wurden. Die Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Krimhilds und den Hunnen wurde selbst als Charakterbeschreibung europäischer Identität begriffen, als historischer Zeuge für den alten Konflikt zwischen Asien und Europa, der die Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“ sichtbar macht. Eine Grenze, die bis heute in der europäischen Politik wie in der vorpolitischen Diskussion über die geographischen wie kulturellen Ausmaße Europas eine zentrale Rolle spielt. Karin Beier hat dies 2007 am Schauspiel Köln in einer großartigen Inszenierung der "Nibelungen" von Friedrich Hebbel demonstriert: Dort der fremde, mächtige Asiate Etzel (die gelbe Gefahr!), hier die europäische „Wertegemeinschaft“- angeführt von Gunther - mit ihrer eigenen Geschichte. „Wir“ sind anders als „Sie“ und Europa existiert nur, weil wir sie, die Hunnen und all die anderen Völker des Ostens, abwehren konnten.

Die Nibelungensage bei einem Turkvolk?

Um so bedeutender ist jene Begegnung, die sich zwischen dem Publizisten und Russlandexperten Kai Ehlers mit dem tschuwaschischen Schriftsteller Michael („Mischi“) Juchma im Jahre 1992 in Tscheboksary, der Hauptstadt Tschuwaschiens an der Wolga zutrug. Nachdem Juchma ein sorgfältig verschnürtes Manuskript von 1956 auspackte, in dem er ein Lied aufgezeichnet hatte, das sein Großonkel Pitraw Lissizyn gemäß seiner tschuwaschischen Tradition gelernt und immer wieder vorgetragen hatte, wurde Ehlers klar: „Das ist doch die Geschichte der Nibelungen“. „Das ist die Geschichte Attilas“, entgegnete Juchma, „es ist die Geschichte unseres Volkes, die ich gesammelt habe, aber in den letzten vierzig Jahren bei Strafe des Todes nicht aus der Kiste hervorholen durfte.“

Die Tschuwaschen sind ein Turkvolk, das seine Angehörigen als Nachkommen der Hunnen und Wolgabulgaren sieht. Mischi Juchma (Jahrgang 1936), Gründer und Leiter des Tschuwaschischen Kulturzentrums, das sich für den Erhalt des tschuwaschischen Kulturgutes einsetzt, hat sich die Sammlung und Erinnerung von Mythen, Legenden und Geschichten der Tschuwaschen und anderer Wolgavölker zur Aufgabe gemacht. Dank seiner Aufzeichnungen und der publizistischen Beharrlichkeit Kai Ehlers erscheint nun etwas auf dem deutschen Buchmarkt, das den Europäer einen neuen Blick auf das eigene kulturelle Erbe ermöglicht: Erzählungen zum Sagenkreis der Nibelungen, aus einem uns bisher weitgehend fremden Kulturkreis.

Kai Ehlers hat nämlich in enger Abstimmung mit Mischi Juchma und unter Hinzuziehung einer russischen Übersetzung den Text ins Deutsche übertragen und ihn mit weiteren Artikeln ergänzt, die die historischen Hintergründe des Textes sowie der Hunnenfeldzüge nach Europa ausleuchten. Das Buch wurde in Zusammenarbeit mit dem Slawisten Christoph Sträßner und dem Nibelungenforscher Mario Bauch im Mai 2011 im Berliner Rhombos-Verlag, einem kleinen inhabergeführten Fachverlag für Forschung, Wissenschaft und Politik, veröffentlicht.

In diesen Erzählungen kommen zwar Helden wie Siegfried, Hagen und die Burgunderkönige nicht vor. Doch andere sind uns wohlvertraut: Etzel, Bloedel, Krimhild und Helche/Herche. Die Geschichte hat eine für uns ungewohnte Perspektive: Sie berichtet in einer poetischen, liederhaften Sprache von der fatalen Liebe des Hunnenzars zu einer gefährlichen Frau:

Der Inhalt des tschuwaschischen Epos

Der tschuwaschische Zar Attil überfällt das mächtige feindliche Volk der Tschuchen. Deren Zar Tschupajrek wird durch den tschuwaschischen Helden Ajtaman schwer verwundet. Er gerät mit seiner schöne Tochter Krimkilte in die Gefangenschaft Attils. Dieser fühlt sich seit jeher zu schönen Frauen angezogen und folgerichtig verliebt er sich in Krimkilte. Sie verschmäht ihn, was sein Begehren noch mehr anstachelt. Er vernachlässigt darüber seine Herrschaftspflichten und seine Familie. Seine Hauptfrau Herrke tadelt ihn dafür. Attil erkennt zwar die Wahrheit ihrer Worte, doch führt dies zu keiner Verbesserung seines Verhaltens, die Staatsangelegenheiten leiden weiter. Der tapfere Feldherr Markka spricht ihn darauf an, doch zieht er nur den Zorn seines Herrn auf sich und wird aus dem Land gejagt. Tschupajrek genest von seinen Wunden und wird aus Gnade von Attil freigelassen.

Die Feinde Attils erkennen die Schwäche der Tschuwaschen und rotten sich mit Tschupajrek zusammen, um Attil gemeinsam zu besiegen. Attil kommt nun zu sich und versucht sein Heer neu zu sammeln. Aber über seinen Krieger Ajtaman wird ihm berichtet, daß er krank ist und nicht an dem Kampf teilnehmen kann. Auch der tapfere Held Markka fehlt nun für die Schlacht. Die Heere treffen auf dem Feld zusammen. Die Umzingelung der Feinde wie in der Schlacht vorher gelingt Attil diesmal nicht. Tschupajrek fordert ihn nun zum Zweikampf auf. Er will trotz dem vormaligen Gnadenerweis gegen Attil kämpfen, da dieser seine Tochter gefangenhält. Die Gefangenschaft einer Frau kann für ihn entgegen der Beteuerung Attils keine Liebesbezeugung sein. Nach langen Kampf trennen sich beide erschöpft, die Schlacht gilt als unentschieden. Nachdem Attil, erleichtert über den geringen Blutzoll, den sein Volk leisten musste, zürückkehrt, bedrängt er wieder Krimkilte. Überraschend willigt diese nun doch in eine Hochzeit ein.

Eine große Hochzeit findet statt, an der neben den feindlichen Völkern sowohl Krimkiltes Vater als auch der wieder genesene Held Ajtaman teilnehmen. Dieser versteht sich sehr gut mit den Vertretern der anderen Völker und tuschelt mit ihnen. In der Hochzeitsnacht stürmt Krimkilte aus der Kammer und berichtet vom Tod Attils. Die fremden Gäste verlassen die Hochzeit. Schnell versucht das tschuwaschische Volk nach dem Tod des großen Zaren ein Heer zusammenziehen, um den Feinden nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Der eigentlich als Heerführer auserkorene Ajtaman ist aber mit Krimkilte zu den Tschuchen geflohen und führt nun das gegnerische Heer an. Glücklicherweise kehrt der ehemalige Feldherr Markka mit seinen Truppen zu den Tschuwaschen zurück und stellt sich ihnen zur Verfügung. Unter seiner Führung besiegen sie die Gegner.

Ajtaman und Krimkilte werden gefangen genommen. Sie sollen den Hunden zum Zerstückeln überlassen werden. Beide verteidigen sich gegen den Vorwurf, Attil ermordet zu haben. Krimkilte behauptet, ihrem geliebten Bräutigam nur Wein zu trinken gegeben zu haben und nach seinem Tod aus Angst vom Hofe geflohen zu sein. Ajtaman gib wiederum an, er sei durch die Schönheit Krimkiltes verzaubert worden und habe ihr deshalb geholfen. Markka schenkt beiden keinen Glauben, verschont sie jedoch. Ihnen werden Haar und Bart geschoren, dann werden sie in die Steppe gejagt. Attil wird an einer geheimen Stelle begraben. Das Volk der Tschuwaschen beschließt in einem großen Ratschlag unter der Führung Markkas eine neue Heimat zu suchen. Ein von den Göttern gesendeter weißer Wolf weist ihnen eine neue Bleibe zu.

Ein neuer eurasischer Kulturraum?

Ob diese Geschichte tatsächlich einer eigenständigen Überlieferung entspringt oder nicht doch eine Ableitung aus dem europäischen Sagenschatz ist, wird wahrscheinlich erst in ein paar Jahren (oder Jahrzehnten?) durch die wissenschaftliche Diskussion geklärt sein. Das Buch von Ehlers enthält einen Aufsatz des Eurasienforschers Christoph Sträßner, der zu zeigen versucht, warum das tschuwaschiche Epos auf einer eigenständigen Überlieferung fußen muß. Sträßner arbeitet dies anhand der deutlichen erzählerischen Unterschiede zwischen bisher bekannten Sagengut und dem neuen Epos heraus, die einen Unterschied im Rückgriff auf die zugrundeliegenden geschichtlichen Kerne demonstrieren sollen.

Ich vermag die Richtigkeit dieser Argumentation nicht zu beurteilen. Doch sollte sich tatsächlich zeigen, daß wir durch das tschuwaschische Epos einen ganz anderen Blick auf die Ereignisse rund um den Hunnenkönig Attila und seiner Ehefrau zur Verfügung haben, so dämmert dort etwas, das unser europäisches Kulturverständnis enorm in Frage zu stellen vermag: Was, wenn diese Erzählung (oder ihre historischen Vorläufer) ihrerseits „unsere“ europäischen Nibelungensagen beeinflusst haben? Was, wenn sich gerade im Umfeld des angeblichen Nationalepos der Deutschen ein miteinander verwobener eurasischer Kulturkreis abzeichnet, der so gar nicht zum Bild einer kulturellen Wasserscheide zwischen Asien und Europa passt? Der bei Greifswald lebende Nibelungenforscher Mario Bauch stellt am Ende einer historiographischen Schilderung der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Hunnen, Goten und Römern die Frage, ob das europäische Feudalsystem nicht durch das hunnische Sozialsystem vermittelt wurde. Das europäische Feudalwesen eine asiatische Erfindung? Wir hätten es den Hunnen schlecht gedankt. Attila wäre viele Jahrhunderte später ein zweites Mal von seiner westlichen Liebe verraten worden.

Neben dem Epos und den erwähnten Aufsätzen von Christoph Sträßner und Mario Bauch enthält das Buch weitere Texte, um dessen Hintergründe auszuleuchten: Der bereits erwähnte Mario Bauch vergleicht in einem weiteren Aufsatz das Personal des tschuwaschischen Liedes mit jenem der bisher bekannten Erzählungen des Nibelungenkreises. Auch Mischa Juchma steuert dem Buch zwei Texte bei: In dem ersten schildert er verschiedene Aspekte und Erinnerungen zur Tradierung des Attila-Epos in seiner Kultur. In zweiten gibt er unter Hinzuziehung eigener, russischer und sowjetischer Quellen einen Überblick über die Geschichte seines Volkes seit dem Frühmittelalter. Dem Buch sind des Weiteren eine Reihe von Briefen tschuwaschischer Wissenschaftler und Intellektueller beigefügt, die sowohl durch Kindheitserinnerungen und Familienberichte die Tradierung des Epos in ihrer Kultur bestätigen als auch darüber berichten, wie die Herausgabe des Attila Epos in der stalinistischen und poststalinistischen Zeit unterdrückt wurde. Es enthält zudem einen kleinen Anmerkungsapparat mit Erläuterungen zum Text des Epos, diverse Illustrationen, eine Chronologie der hunnischen und tschuwaschischen Geschichte. Schließlich ist im Anhang auch noch das von Juchma aufgezeichnete tschuwaschische Original in kyrillischen Buchstaben dokumentiert.

Eines ist klar: Jeder, der sich intensiv mit der Nibelungensage und ihrer kulturellen Wirkung beschäftigt, wird um diese Neuerscheinung nicht herumkommen. Um so mehr sind wir stolz darauf, dass uns Kai Ehlers sein Vorwort zu dem Buches als Appetithappen zur Verfügung gestellt hat. Die Leserin findet es hier.




„Attil und Krimkilte. Das tschuwaschische Epos zum Sagenkreis der Nibelungen“
übersetzt und herausgegeben von Kai Ehlers
in Zusammenarbeit mit Mario Bauch und Christoph Sträßner

Rhombos-Verlag, Berlin, 2011; 268 Seiten; 42,00 Euro
ISBN 978-3-941216-50-1

Das Buch ist hier bestellbar.

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