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Lugaddon Lustvolles Wandeln
28.04.2017, 09:55

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Lustvolles Wandeln

Wo mich der Sprung übers Beltaine-Feuer hinführte

 von Lugaddon 

Hochzeitsfeiern hinterlassen bei mir gemischte Gefühl. In der Regel stehen einem die Menschen, deren bürgerliche Trauung mit oder ohne Kirche man miterlebt, ja nahe. Und dann wird man Zeuge, wie die beiden von Familienmedusen umlagert so gar nicht sie selbst sind und sie die dreistöckige Torte wieder und wieder - vorschriftsmäßig mit doppelhändiger Führung des Messers - anschneiden müssen, damit auch alles aufs Band kommt. Dafür gibt es in der Regel einen kleinen Szenenapplaus.

Mit gemischten Gefühlen verließ ich also die Hochzeit eines guten Freundes am 30. April 2003 vorzeitig, um mich auf den Weg zu einer heidnischen Feier zu machen. Einer Beltaine-Feier, die dem prallen Leben, der Fruchtbarkeit und dem Wachstum huldigen sollte. Einer Beltaine-Feier, in deren Vorbereitung ich viel Arbeit investiert hatte und nicht sicher war, ob sie sich auszahlen würde. Sämtliche Gäste waren von einer Gruppe eilfertiger Paranoiker darauf hingewiesen worden, daß das Fest allein dazu dienen würde, sie einzulullen und auf eine gefährliche politische Linie einzuschwören - wobei alle (ich, die anderen Planer, die Gäste) unmerklich von der allmächtigen ersten Vorsitzenden des Vereins, der diese Feier ausrichtete, gelenkt wurden. Ich war unversehens Teil einer Verschwörungstheorie geworden und steckte knietief im Molkesumpf der Vereinsmeierei. Insofern hatte ich Zweifel, ob sich nach einem solchen Vorspiel überhaupt eine Atmosphäre einstellen könnte, wie ich sie mir für ein Fest wünsche, das die helle Jahreshälfte herbeifeiert. Doch im Auto roch es dank der über hundert Weidenruten, die ich am Vorabend für den Weidenmann geschnitten hatte, schon nach frischem Grün. Es bestand also Hoffnung.

Der Regen begleitete Sonja, Sally (unsere Golden-Retriever-Hündin, die sich auf der Rückbank notdürftig unter dem Rutenbündel zusammenknüllte) und mich während der ganzen Autofahrt. Sonnenstrahlen ebenfalls. Die Tropfen auf der Fahrbahn sangen ein albernes Liedchen, in dem es darum ging, dass es noch immer April war und wir uns auf nichts verlassen durften. Jaja, trällerte ich aus Trotz und ziemlich schief mit, sei's drum, bei diesem Fest ist sowieso alles offen. Nach der Autobahnabfahrt kurz hinter der Moseltalbrücke führte der Weg durch eine Märklin-Landschaft voller Fachwerkhäuser; hinter jeder Kurve erwartete ich einen berghohen Trafo, der die Geschwindigkeit der Züge entlang der Moselfahrstrecke reguliert. In irgendeinem 50er-Jahre-Ferientraumort ging es links hoch Richtung Hunsrück, hinein in keltisches Herzland. Kurz vor dem Ziel einigten sich Sonne und Regen einstweilig auf ein Unentschieden und präsentierten uns stolz einen Regenbogen wie aus dem Kinderbuch: In satten Farben bog sich der Prismenstreifen über ein bewaldetes Tal, das so saftgrün war, das ich mich auf der Stelle in eine Kuh mit Godzillas Körpermaßen verwandeln wollte. Nachdem ich mir den Wanst voll Laub geschlagen hätte, wäre ich gern noch mal runter zur Mosel gehuscht, um heimlich ein wenig an dem Trafo zu drehen. Solche Gelegenheiten muß man schließlich ausnutzen.

Statt dessen fiel Sonja und mir wieder auf, was Regenbögen für faszinierende Gebilde sind. Jeder Mensch sieht seinen eigenen Regenbogen - er ensteht überhaupt erst durch das Spiel von Wasser, Licht und den Standpunkt des Betrachters. Sah man von der anderen Seite des Tales aus herüber auf unsere Straße, gab es den Regenbogen wahrscheinlich nicht einmal. Für uns stand er allerdings wie eine talumspannende Brücke in der Landschaft, nein, er stand nicht, er wanderte neben uns her und das eine Ende streifte gut sichtbar über das Blätterdach unter uns. So nah war ich noch nie an einen Regenbogen herangekommen, und bewegt hatten sie sich bisher auch nicht. Damit, so wurde mir klar, war leider auch endgültig bewiesen, daß uns die alte Goldtopf-Geschichte einen Bären aufbindet. Kurz nachdem die Farben aus der Luft verschwunden waren, steuerten wir auf das Gelände der Burg Waldeck zu, wo wir die nächsten vier Tage verbringen würden.

Einige von uns Festplanern waren schon einen Tag vorher hergekommen, um Zelte aufzubauen. Einige Fragen umschwirrten mich: Würden sie müde und überspannt sein? Würden die Gäste argwöhnisch beobachten, ob es Anzeichen dafür gab, daß sich die Warnungen bestätigten? Verdammt, dachte ich, ich will eine ordentliche Feier. Ich pfeif' einfach auf sämtliche Zweifel. Ich zeig' allen, daß die Vorwürfe, der Rabenclan würde zu einer Art Yuppie-Heiden-Club umgekrempelt, aus der Luft gegriffen waren. Ich entschied mich auszusteigen und eine Frohsinn verströmende Begrüßungsrunde zu drehen. Da waren sie doch, all die feierwütigen Heiden und erwartungsfrohen Festgäste, alle guten Mutes, vor sich die ersten Humpen und Hörner voll Met. Ich sah Umhänge und Fibeln und Lederhosen und Feuer. Ich roch Fleisch auf dem Grill. Blicke taxierten mich, und runenartig in die Luft geschnitzte Fragezeichen hingen in der Abenddämmerung. Ich sah an mir herunter. Noch immer steckte ich in dem hellen Anzug von der Hochzeit, inklusive Button-Down-Hemd und Designer-Krawatte. Ich kam auf den Gedanken, mich doch besser zunächst umzuziehen.

Danach kam ich mir kurz wie Superman vor, der gerade die Telefonzelle verlassen hatte, ohne sich darüber klar zu sein, welches Outfit die eigentliche Kostümierung war. Bei meinem zweiten Anlauf, mich unter die Leute zu mischen, stellte sich aber schnell heraus, daß alles bisher gut war: Die Gäste schienen zufrieden und gar nicht argwöhnisch, der letzte Stand der Anmeldungen würde die Übernachtungskosten decken, und meine Kollegen aus der Festplanung waren wunderbar entspannt. Niemand sprang hektisch herum, warf mir Zahlen oder Formulare an den Kopf. Keiner verlangte eine weichere Matratze, ein härteres Kopfkissen oder bessere Luft. Niemand wollte ein anderes Fest. Alle waren sie hier, und alle schienen sich genau damit wohlzufühlen. Ich war tatsächlich angekommen.

Doch kaum verschwand die Sonne hinter den Bäumen, nutzten ein paar Wolken ihre Chance, das Tagesrennen doch noch für sich zu entscheiden. Zuerst mit einem Nieseln, das die Feuerstelle giftig vor sich hinzischen ließ, und bald mit Wänden aus Wasser, die überall aus dem Boden wuchsen. Das große Festzelt, in dem wir die Bar untergebracht hatten, hatte bereits an diesem Abend seine erste Prüfung zu bestehen. Die Festplanung auch, denn das Begrüßungsritual, das wir eigentlich feiern wollten, konnten wir vergessen. Bei näherem Hindenken fiel uns wieder ein, daß wir uns bis zuletzt nicht ganz über Ablauf und Richtung dieses Rituals geeinigt hatten. Mit einem spontanen Dank an den Regen, der uns weitere Zeit für eine Lösung gab, entschieden wir, daß wir uns im weiteren aus der Ritualgestaltung heraushalten wollten. Wir Planer hatten uns bei der gesamten Planung des Festes sowieso nur als Gestalter eines Rahmens verstanden, der es allen Gästen erlauben sollte, so viel von sich selbst wie irgend möglich in den gemeinsamen Kessel zu werfen. Warum sollten wir uns den Kopf über zeremonielle Abläufe zerbrechen und dabei immer wieder bedenken, wer welche Vorbehalte haben könnte? Die Gäste würden wohl selbst am besten wissen, welche Zutaten und Speisenfolge ihnen am besten schmeckten. Wir verschoben das Ritual also auf den kommenden Abend und überliessen es der Gesamtheit der Anwesenden, sich am kommenden Tag auf das dafür Notwendige zu einigen.

Ich goß mir nach, freute mich über diese Fügung und bemerkte, daß der Regen einen weiteren fruchtbaren Effekt hatte: Die zwanzig bis dreißig Leute, die bereits angereist waren, hatten allesamt Schutz unter der Plane gesucht und saßen herrlich eng beieinander. Während mir klar wurde, daß die Burg Waldeck in den siebziger Jahren wohl deshalb als "Deutsches Woodstock" bezeichnet wurde, weil sich wie dort der Boden bei Kontakt mit Wasser in eine Schlammwüste verwandelt, schwirrten die Geschichten und klirrten die Gläser. Bitteschön, wenn entgegen unserer Planung der erste Abend so verlaufen sollte - ich kam damit wunderbar zurecht. Ich hörte, wie von Keltengräbern unter modernen Wohnhäusern erzählt wurde, von heilkundigen Großmüttern und zehnjährigen Mädchen, die die Bäche der Waldeck-Umgebung auf eigene Faust auskundschafteten. Alte Raben und Gäste, die durch die Einladung im Internet auf den Rabenclan und das Beltaine-Fest aufmerksam geworden waren, saßen gemischt durcheinander. Die Bar brummte. (Ach, überhaupt, die Bar, sie kann nicht genug gepriesen werden. Dies hat keinesfalls etwas damit zu tun, daß sie in langen Strecken von Sonja geführt wurde und sie mich etwa gebeten hätte, hier und da einfließen zu lassen, wie gut es an der Bar lief. Mitnichten.) Mit einem Lächeln versuchte ich, die Met- und Bierblasen, die vor meinen Augen zerplatzten, zu verscheuchen. Da ich damit keinen Erfolg hatte, stand ich auf und versuchte es mit einem Ortswechsel; auch im Kaminzimmer saßen mittlerweile Menschen, die sich wärmten und angeregt unterhielten. Nachdem ich ein Weilchen recht überzeugend vorgegeben hatte, dem Gespräch folgen zu können, beschloß ich schließlich, das Bett aufzusuchen. Was für eine Ouvertüre, was für ein gelungener erster Abend. Ich war berauscht - von Getränken, von Gesprächen und von Menschen. Mehr hatte ich nicht erwartet, mehr konnte man nicht verlangen.

Der folgende Vormittag wurde für Feinjustierungen aller Organisationsabläufe genutzt: wann muß das Essen aus dem Haupthaus geholt und wann die leeren Schüsseln zurückgebracht werden, wo bekommen wir Lappen und Eimer her, und was, bei allen Wettergöttern, machen wir, wenn es weiter so regnet? Um der akuten Gefahr des Ausrutschens im Schlamm und würdelosen Dahinscheidens durch Kopfaufschlagen auf der Bierbank zu begegnen, verteilten wir Stroh auf dem Boden. Das verschaffte neuen Tritt und machte sich nicht nur optisch gut, sondern auch eine Bäuerin unverhofft reich. Durch ein Mißverständnis bekam sie nicht nur den Betrag in Euro, den sie uns in D-Mark genannt hatte, sondern das ganze am Ende auch noch unabhängig von zwei Personen, d.h. doppelt bezahlt. Allein die Tatsache, daß wir nur zwei Strohballen genommen haben, hat den Verein vor seinem endgültigen Ruin bewahrt.

Im Lauf des Tages wuchsen die Zeltlager immer weiter an und neue Gesichter vergrößerten die Runden. Einige der Neuankömmlinge erzählten von einem Feuersalamander, den sie auf dem Zufahrtsweg gesehen hatten; auch ich hatte das auffällige Tier am Morgen bereits reglos aber aufmerksam am Wegesrand sitzen sehen. Im allgemeinen schließe ich mich dem an, was kluge Menschen über den Umgang mit Kraft- oder Totemtieren an anderer Stelle geschrieben haben: Begreife das Tier aus seiner Physis, seinem Lebensraum und seinem Verhalten heraus und nicht durch den Griff zum mythologischen Lexikon. Lies die Zeichen, die Dir ein Tier gibt, mittels Beobachtung oder Sachbuchlektüre und nicht durch kulturell geprägte, in der Regel vermenschlichende Deutungsschablonen. In diesem Fall hatte ich aber zum einen nicht viel Zeit zur Beobachtung und zum anderen gefiel mir das, was ich in einer dieser Deutungsfibeln zum Feuersalamander fand, so gut, daß ich mich diesmal damit zufrieden geben wollte. Bedeutungschwer stand dort geschrieben: "Sind Sie auf einen Salamander gestoßen, will er Sie an Ihre wirkliche, elementare Urkraft erinnern. Urkraft ist wie ein Drache. Ungestüm, wild, tödlich, wenn sie nicht in vielfach transformierter Form mit dem Leben in Berührung kommt. Etwas in Ihrem Leben ist jetzt gerade im Begriff, auf ganz elementare Weise in Ihre Entwicklung einzugreifen. Keine Angst, es ist nichts Bedrohliches. Es ist genau das Richtige. Versuchen Sie motiviert durch die Begegnung mit dem Salamander, einfach eine innere positive Haltung zu sich und ihrem Leben einzunehmen. Nur für heute, nur für den Augenblick. Mehr braucht es nicht, damit das, was ist, sein muß und sein soll, auch guten, positiven Boden zum Wachsen vorfindet. - Wenn das kein stimmungsvoller Vorbote für das Ritual am Abend und die Weidenmann-Verbrennung am Folgetag war, wenn dieser Salamander nicht das sinnfällige Zeichen für die in Bewegung geratenen Kräfte eines Beltaine-Festes schlechthin war. Wollte ich doch selber - wie wohl viele andere mit mir - eben dies: Mithilfe der wandelnden Kraft des Feuers Raum für neues Wachstum schaffen. Bis zum Abend hatte sich der Feuersalamander schließlich bis auf die Schwelle unseres mehrere hundert Meter entfernten Gästehauses vorgearbeitet, wo ihn noch einige weitere Gäste bemerken sollten.

Für die Ritual-Vorbereitung hatte sich indes eine Gruppe zusammengefunden, die den Ablauf plante und den Platz vorbereitete. Stattfinden würde das ganze an dem gleichen Ort, wo auch am Folgetag der Weidenmann brennen sollte: einem etwas abseits gelegenen, erhöhten Platz direkt am Waldrand, auf dem eine einzelne bemooste Eiche steht. Der alte Mühlstein darunter sollte als Altar dienen, auf dem Opfergefäße und -gaben Platz finden würden. Nachdem hier alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und sich der Platz geleert hatte, war für mich der Moment der Wahrheit gekommen. Es war mittlerweile Donnerstagnachmittag und ich faltete einen Zettel auseinander, den ich seit der Ankunft auf Burg Waldeck in meiner Jeanstasche bei mir getragen hatte. Wochen vorher hatte ich darauf eine Skizze von einer entfernt menschenähnlichen Figur gemacht, die sich aus einzelnen käfigartigen Blöcken zusammensetzte. Drei Meter Höhe mußten drin sein, das hatte ich mir als Mindestmarke gesetzt und vollmundig angekündigt. Der Burgvogt hatte grünes Licht gegeben, dass ich hier am Waldrand ein ordentliches Feuer machen dürfte. Jetzt mußte ich nur noch die etwa hundert Weidenruten, die gestaltlos wie ein Haufen Mikadostäbe vor mir auf dem Boden lagen, mittels dreier Rollen Blumendraht so verbinden, daß daraus die Figur auf der Zeichnung wurde. Für ein paar Sekunden dachte ich darüber nach, ob ich nicht einfach schreiend im Wald verschwinden sollte.

Ich hatte durchaus schon vorher einen Weidenmann gebaut. Aber der war im Vergleich zu dem, was ich mir hier vorgenommen hatte, ein Weidenmännlein gewesen. Es ist schwer zu sagen, was mich davon abhielt, mich im Unterholz vor den Leuten zu verstecken, die sich darauf gefreut hatten, mit mir zusammen in mehrstündiger, mühsamer Arbeit etwas aufzubauen, dessen einziger Zweck darin bestehen würde, kurz darauf verbrannt zu werden. Hier gerate ich ins Schwimmen und kann nur vorsichtig mutmaßen: Das hat etwas mit Magie zu tun und womöglich mit einem spezifisch keltischen Weg, die Dinge anzugehen. Irgendwo tief in mir wußte ich, daß der Weidenmann zum Stehen kommen würde und zwar hier, an diesem Ort, wo ich stand. Im Rückblick scheint es mir gar nicht maßgeblich gewesen zu sein, den Weidenmann nach den einzelnen Vorgaben der Zeichnung zu bauen; in der Tat lösten wir uns während der Arbeit immer öfter von der Skizze. Entscheidend war, daß ich die Zeichnung Wochen vorher nach einem Bild, das ich in mir trug, angefertigt hatte. Und so wie es dieses Bild in mir gab, wußte ich, daß auch der Weidenmann existierte. Noch konnte ihn keiner anfassen - aber er war zum Greifen nah. Ich konnte eigentlich nicht sicher sein und hatte keinerlei Erfahrungswerte, ob der Draht kräftig genug war, um die Ruten zusammenzuhalten oder die fertige Figur die spätere Last des Reisigs wirklich tragen würde. Und dennoch war ich mir auf eine eigenartige Art sicher, das bisher alles seinen richtigen Gang genommen hatte und weiter nehmen würde.

"Keltisch" nenne ich die Herangehensweise auch deshalb, weil in ihr handwerkliches, ästhetisches und geistiges Arbeiten Hand in Hand gehen und weil man sie - in einem etwas eigenwillig umgedeuteten Wortsinn - als "rätsel-haft" bezeichnen kann. Der Weidenmann war selbst wie ein Rätsel, das ungelöst im Raum stand. Doch so, wie man beim Lösen eines Rätsels in einer Zeitschrift weiß, daß es eine Lösung gibt, auf die man notfalls durch Umblättern einen Blick werfen kann, weiß ich bei Arbeiten dieser Art mittlerweile, daß mich jede Schwierigkeit nur dazu herausfordert, die Dinge zu drehen, eventuell einen Kopfstand zu machen und dabei möglichst ein Lied zu pfeifen. Wie bei einem Spiel, welches die Absicht und mein Tun miteinander treiben - wobei es nie darum geht, wer den anderen besiegt, sondern immer darum, ob man bereit ist, sich bis zum Ende auf die Fragen und Antworten der Dinge vor einem einzulassen. Irgendwie geht es weiter, oft auf ganz unerwartete Weise. Wo es bei dieser Art Rätsel das Äquivalent zum Umblättern gibt, habe ich noch nicht herausgefunden, aber manchmal ist es die natürliche Beschaffenheit eines Werkstückes, wie in diesem Fall einzelner Weidenruten, die eine Lösung anbietet, die unmöglich zu erwarten war. Es ist, als sprächen die Dinge mit einer eigenen Stimme. Lernt man, ihr zuzuhören, löst sich das Rätsel.

Es war eine wunderbare Erfahrung, als ich in der heidnischen Hobbythek auf dem Ritualplatz feststellen durfte, daß dieses ungesteuert-absichtsvolle Tun mit all seiner Rätsel-haftigkeit auch in einer Gruppe funktionieren kann. Wir waren bis zu zehn Leute, die unabhängig an den Armen, Beinen, dem Torso und Kopf des Weidenmanns herumwerkelten. Es wurde gelacht, verhalten geflucht und sich gegenseitig zugeschaut. Neuankömmlinge auf dem Platz wies ich kurz ein, wo sie helfen oder selbst einen Teil bauen konnten, aber den Gesamtüberblick hatte ich irgendwann verloren. Und doch paßten am Ende sämtliche Blöcke wunderbar zusammen - es ergaben sich sogar ganz zweckmäßige Naht- und Auflagestellen, mit denen sich die Teile organisch verbinden ließen. Niemand hatte diese im Hinblick auf die anderen Gruppen bewußt vorgesehen. Auch hier schien es, als hätte die beabsichtige Gestalt kaum merklich dabei mitgeholfen, sich selbst ins Leben zu rufen. Am Ende stand der etwa dreieinhalb Meter hohe Weidenmann aufgerichtet im Hintergrund des Ritualplatzes. Ich war stolz auf uns alle: den Weidenmann, diejenigen, die ihn errichtet hatten und auf mich, der ich nicht schreiend im Wald verschwunden war.

Dem Ritual am Abend stand ich, und ich gebe es nur zögernd zu, zwiespältig gegenüber. Auf der einen Seite hielt ich es für eine gute Gelegenheit, die große Gruppe, die sich mittlerweile auf dem Gelände befand, erstmals in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und das Ritual auch für mich zu nutzen, um die ersten Fetzen der Winterhaut abzustreifen. Darüber hinaus war ich neugierig, was sich die Gruppe für das Ritual ausgedacht hatte und wollte dieser Arbeit mit Wertschätzung begegnen. Auf der anderen Seite wußte ich, dass das Ritual deutliche Wicca-Züge tragen würde, womit ich keinesfalls die Wicca-Anhänger oder ihre Sicht der Dinge beleidigen will. Ich habe nur ganz persönlich meine Schwierigkeiten damit, sämtliche Göttinnen als eine zu sehen und alle Götter mit Hörnern als ihren Gefährten. Cernunnos ist für mich Cernunnos, und Brigid ist nicht Dana ist nicht Epona. Am Ende gewann der Wunsch, mich als Teil einer weiter zusammenwachsenden Festgesellschaft fühlen zu wollen, jedoch die Oberhand. Es lohnte sich. Obwohl nicht alle einzelnen Anrufungen und Elemente des Rituals in gleicher Weise für mich Sinn machten wie für andere Teilnehmer, erfüllte das Ganze dennoch auch für mich seinen Zweck. Vor allem der Spiraltanz, der menschliche Nähe und Begegnungen im eigentlichen Wortsinn schafft, riß mich mit. Außerdem war ich das erste Mal übers Feuer gesprungen. Danach genoß ich den Abend an der Bar, die, wie ich zuvor schon am Rande bemerkte, nicht nur glänzend geführt wurde, sondern auch ein steter Quell des Frohsinns und heiteren Miteinanders war.

Der nächste Tag brachte rasche Wechsel zwischen Essen, Ruhen und dem Willkommenheißen neuer Gäste. Mein Zeitempfinden wurde immer schwammiger; ich lebte einfach auf Burg Waldeck mit Leuten zusammen, die ich größtenteils (wie viele?) Tage zuvor kaum gekannt hatte und teilte mir mit ihnen Mahlzeiten, Schlaf- und Waschräume. Uhren werden in heidnischen Kreisen so gut wie nicht getragen, was dazu führte, daß wir einen der wenigen Uhrenträger darum gebeten hatten, vor den Mahlzeiten laut zu trommeln. Nur so konnten wir sichergehen, daß das Essen in der Küche des Haupthauses tatsächlich abgeholt wurde. Überhaupt, das Trommeln: Der Burgvogt hatte sich bereits über unsere Trommelei in der vorigen Nacht bei mir beschwert. Vorsichtig fragte ich Ihn, ob wir etwa zu laut oder zu spät... , doch die niederschmetternde Antwort war: weder noch. Wir seien zu schlecht gewesen und bei so einem unrhythmischen Geklopfe könne er unmöglich einschlafen. Über das Gelände schallte just in diesem Moment der vielstimmige Samba-Rhythmus einer Trommelgruppe, die zwischenzeitlich das Haupthaus der Burg Waldeck bezogen hatte, um hier über mehrere Tage zu proben. Er schaute, als wolle er mir sagen: "Gruppen wie diese sind hier öfter zu Gast. So sollte es klingen, wenn Ihr vor meinem Fenster trommeln wollt." Zu "schlecht", soso. Der sollte sich in der kommenden Nacht noch wundern.

Duke und Karan beim Konzert

Während des Konzerts erschien ein doppelter Regenbogen

Duke Meyers Konzert am frühen Abend bekam ich leider nur am Rande mit. Der Weidenmann stellte sich als äußerst gierig heraus und so fütterte wir ihn den ganzen Nachmittag und Abend lang mit Reisig, während die Leute immer wieder alte Briefe, Fotos und wunderliche Gegenständen dazwischenstopften. Wir hatten ihn mittlerweile in die Mitte des Ritualplatzes umgesetzt, an die gleiche Stelle, wo wir schon am Abend zuvor über das Feuer gesprungen waren. Er hatte nur noch wenige Stunden vor sich und beugte sich bereits bedrohlich unter der Last, die wir ihm eingeflochten hatten.

Was in der Nacht dann tatsächlich geschah, ist schwer zu beschreiben. Ich hatte Duke dafür gewonnen, sich am zunächst dunklen Ritualplatz mit einer Basstrommel zu postieren, während ich die Festgesellschaft mit der Bodhran zu ihm und dem Weidenmann hochführte. Während unsere Rhythmen miteinander verschmolzen, versammelte sich die Menge vor der riesenhaften Gestalt, deren Umrisse sich immer deutlicher vor dem mit Fackeln erleuchteten Wald abzeichneten. Als nach dem wenigen, was noch zu denken, zu sprechen und zu tun war, die Flammen vier Meter durch den Körper des Weidenmanns in die Höhe schossen, wußte ich, daß es die Mühe wert gewesen war. Mit einem Kniefall verneigte sich die Gestalt vor uns und kippte brennend vornüber. Für wenige Sekunden schienen alle wie gelähmt, neben dem Prasseln der Flammen und dem anhaltenden Trommeln gab niemand einen Laut von sich. Bis hier hatte ich vorausgeplant, was danach folgen würde, wollte ich dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Ich hatte mir einiges erhofft, doch meine Erwartungen wurden übertroffen. Plötzlich lag Triumph in der Luft, Schreie gellten durch die Nacht, und der Funke sprang durch die Menge. Da war Licht, da war Tanz, da war Schweiß. Schnell formte sich ein loser Ring aus Tänzern um das lodernde Skelett, rasch wurde eine dritte Trommel hinzugeholt. Wir steigerten den Druck, um plötzlich weitere, vielstimmige Unterstützung zu bekommen: Die Samba-Trommler hatten das Feuer gesehen und sich auf den Weg zu uns gemacht. Es wurde ein wahrhaftiges Fest, bei dem ich ein zweites Mal über das Feuer sprang. Dieser Abend vollendete das, was wir mit dem Ritual eine Nacht zuvor begonnen hatten.

Als ich später schmunzelnd gefragt wurde, ob die Samba-Trommler wohl wußten, daß sie Teil eines "echten Rituals" waren, antwortete ich, daß das im Grunde keinerlei Unterschied macht. Jeder nimmt das mit, was er wahrgenommen hat, wobei das Maß und die Art der eingebrachten Erwartungen deutlich mitbestimmt, was man an Erinnerungen, Erlebnissen und Einsichten zurückbehält. Als ich darüber auf dem Weg zur Bar (die nicht nur Schwung und Lebendigkeit in das Fest brachte, sondern auch durch ihr freundliches Personal bestach) weiter nachdachte, wurde mir klar, daß mit dem Ende dieser Nacht ein wesentlicher Kern des Beltaine-Festes hinter mir liegen würde. Nicht weil dieser Teil "meine" Idee gewesen war. Sondern weil sich daran gezeigt hatte, daß der Rabenclan aus vielen begeisterungsfähigen Menschen besteht und solche neu anzuziehen vermag. Meine anfänglichen Befürchtungen hatten sich ins Gegenteil verkehrt. Ich hatte Gemeinschaft, Tatkraft und Lebensfreude erlebt und viele Menschen kennengelernt, die ich nicht zum letzten Mal gesehen haben wollte. Ich war tatsächlichen in der hellen Hälfte angekommen.

 Text: Lugaddon lugaddon@gmx.de 
 Fotos: Martin Marheinecke

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