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Ruediger Suenner Dalai Lama 3
28.04.2017, 09:55

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Wer ist der Dalai Lama?

Wenn die Trimondis atavistische Tiefenschichten des tibetischen Buddhismus kritisieren, beziehen sie natürlich immer dessen Oberhaupt - den Dalai Lama - mit ein. Und doch verraten die Bemerkungen zu ihm eine gewisse Ambivalenz und Unentschiedenheit, die sich im Verlauf der Lektüre zu einem Katalog letztlich offener Fragen ausweitet. Man muss wissen, dass die Trimondis den Dalai Lama einst nicht nur schätzten, sondern auch Bücher von ihm verlegten und Grossveranstaltungen mit ihm organisierten. Irgendwann kam eine Abkehr und es entstand das Bedürfnis, religiöse Weltbilder - also auch den Buddhismus - genauer und tiefer zu analysieren. Ich vermute, dass dabei auch persönliche Erfahrungen (Enttäuschungen, Verletzungen?) der Autoren mit dem Oberhaupt Tibets eine Rolle spielten.

Leider wird darüber im Buch nichts gesagt, die Trimondis steigen nicht in den Keller ihrer eigenen Projektionen, Ängste und Verstrickungen hinab, wie sie es für den Umgang mit den "Schattenseiten" des Lamaismus fordern. Stattdessen klingt in ihrem Buch immer auch eine Art Hassliebe gegenüber dem Dalai Lama durch. Vielleicht auch ein bisschen Neid angesichts seines "Sex-Appeals", der ja offensichtlich auf zahlreiche Filmschauspielerinnen, Popsängerinnen und selbst Feministinnen zu wirken scheint. Man merkt, und das ist nicht unbedingt unsympathisch, dass die Trimondis mit diesem interessanten und charismatischen Mann noch nicht fertig sind. Auch mir geht es so, wenn ich einerseits die kritischen Materialien im Buch lese, andererseits von ihm bspw. im Fernsehen immer wieder stark berührt werde.

Im "Schatten des Dalai Lama" wird dem Führer Tibets einerseits zugestanden, tatsächtliche Reformbewegungen voranzutreiben, andererseits erscheint er wie ein in finstere Okkultpraktiken verstrickter Zauberer, der mit allen Wassern der Sexualmagie gewaschen ist, rachsüchtige Schutzgottheiten verehrt und an einen Endkampf des Buddhismus um die Weltherrschaft glaubt. Die Trimondis berichten jedoch auch davon, wie er den Missbrauch von Frauen für tantrische Zwecke kritisiert, Licht- und Schattenseiten in der Vergangenheit seiner Heimat eingesteht und sogar die Gründung einer tibetischen Fraueninitiative protegierte. Ihm wird zugutegehalten, dass er sogar seine Wiedergeburt in einem weiblichen Körper für möglich hält, was einen radikalen Bruch mit dem bisher ausschliesslich männerdominierten Lamaismus bedeuten würde. Aber dann wird wieder gesagt, er äussere all dies immer nur mit einem Schmunzeln, kaschiert hinter mehrdeutigem Humor und es schimmert die Befürchtung hindurch, er sei doch ein listiger Stratege, wenn nicht mephistophelischer Clown. Der Dalai Lama - dies merkt man auf Schritt und Tritt - ist den Trimondis unheimlich, eine Sphinx in männlicher Gestalt, bei der man nicht so genau weiss, wo man dran ist. Auch mir geht es zuweilen so und vielleicht spüre ich in diesen Momenten die tiefsten Abgründe zwischen Europa und Asien. Möglicherweise äussert sich bereits in der ganzen Aura dieses Mannes die Kluft zwischen westlichem Rationalismus, Entweder-Oder-Denken und dem östlichen (manchmal fast genüsslichen) Oszillieren zwischen allen Polen irdischer und kosmischer Existenz. Dies scheint mir ein erkenntnistheoretisches und moralisches Grundproblem nicht nur der Kritik des Buddhismus, sondern auch ihres obersten Führers zu sein.

Die Trimondis helfen sich aus dieser Verlegenheit, indem sie ein paar Dinge übertreiben: Sie erwähnen die Faszination des Dalai Lama für Kriegsspielzeuge, Kriegsfilme und Uniformen ("sehr attraktiv") und erwägen, ob die Ausstrahlung der von ihm zelebrierten grossen Kalachakra-Rituale auch indirekt zum Tod von Petra Kelly oder Mao Tse Tung führten (703, 740). Auch sind sie in ihren Recherchen ungenau, was sein Zusammentreffen mit Alt-Nazis oder fanatischen Sektenführern betrifft. Ob man Heinrich Harrer einfach mit der Bezeichnung "SS'ler" charakterisieren kann, bleibt fraglich. Ebenso beziehen die Trimondis ihre Information, der Dalai Lama sei nach seiner Flucht aus Tibet als erster vom chilenischen Neo-Naziführer Miguel Serrano begrüsst worden, aus einem Interview mit Serrano selbst, also einer höchst subjektiven Quelle (665). Und die Tatsache, dass sich der japanische Sektenführer Shoko Ashara als Inkarnation eines "Shambhala-Kriegers" sah, Sexualtantra praktizierte, 100.000 Dollar für tibetische Flüchtlingshilfe spendete und sich mit dem Dalai Lama traf (vor dem Giftanschlag in Tokio!), berechtigt noch nicht zu der Feststellung, dass dieser Ashara "direkt in die Geheimnisse seiner 'politischen Mystik' eingeweiht hat." (690) Völlig unerfindlich bleibt, warum schliesslich noch der amerikanische Multimillionär John du Pont erwähnt wird, der 1996 auf offener Strasse den Olympiasieger David Schultz erschoss und kundtat, er sei der "Dalai Lama" und das "Oberhaupt einer weltweiten buddhistischen Kirche" (691)? Hier wird mit unlauteren Suggestionen und nebulösen Assoziationsketten gearbeitet, vielleicht auch aus Wut darüber, letztlich doch nicht an den "Kern" des zu Kritisierenden heranzukommen. Möglicherweise sind auch (uneingestandene) Gefühle persönlicher Abrechnung mit im Spiel, die die Qualität des sonst so wichtigen Buches leider trüben.

Braucht der Westen den Buddhismus?

Zu den einflussreichsten und wortgewaltigsten Propagandisten des tibetischen Buddhismus gehört der Amerikaner Robert Thurman (Bild), übrigens Vater der erfolgreichen Hollywood-Schauspielerin Uma Thurman ("Pulp fiction"). Er liebt es, von der "coolen Revolution des Buddhismus" zu sprechen, in dem für ihn Werte wie Individualismus, Pazifismus, Ökologie etc. zum Ausdruck kommen, ja er geht sogar soweit, die grossen tibetischen Gelehrten der letzten Jahrhunderte für bedeutender als ihre europäischen Kollegen zu halten. Hume, Kant, Nietzsche, Wittgenstein, Hegel, Heidegger - so der effektive Werbestratege des Dalai Lama - würden sich später einmal als Linienhalter der grossen Bodhisattvas erweisen. Amerikanische Halbbildung, Neid gegenüber dem kulturell älteren Europa oder provokativer Schachzug eines cleveren Marketing-Strategen? Tatsache ist jedoch, dass nicht nur Hunderttausende (in Amerika sogar Millionen) von Menschen sich der Spiritualität Tibets mit grosser Faszination zuwenden, sondern auch Wissenschaftler wie der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker oder der Evolutionstheoretiker Ken Wilber, der den tibetischen Buddhismus für das "umfassendste und vollständigste System der Welt" hält. (Schatten 765)

Es sei immer wieder erstaunlich, so auch die Trimondis, wieviele gestandene Gelehrte des Westens sich in unkritischer Begeisterung für den Dalai Lama und sein wissenschaftliches Halbwissen begeistern würden, ja oft liefen Konferenzen darauf hinaus, die neuesten Erkenntnisse Europas und Amerikas alle schon im Buddhismus vorzufinden.

Gegen diese Mischung aus Mode, Devotion, Naivität und Uninformiertheit mögen ein paar Gedanken von C.G.Jung und Rudolf Steiner helfen, die sich mit dem Problem der Adaption östlicher Weisheiten grundlegend beschäftigt haben. Denn vielleicht muss man bei diesem Thema doch noch tiefer gehen, als es eine Aufzählung von frauenfeindlichen, undemokratischen und dämonologischen Aspekten hergeben kann, die gleichwohl als erste Materialsammlung wichtig ist. Jung und Steiner hegten zeitlebens grosse Wertschätzung z.B. gegenüber z.B. dem Hinduismus und Buddhismus, warnten jedoch gleichzeitig immer vor einer blinden Übernahme dieser Lehren in den Westen. Zwar konzedierten beide, dass Asien sich bis heute eine ganzheitliche Weltsicht bewahrt habe, die im einseitig auf Rationalität und Technik fixierten Europa längst abhandengekommen sei, doch forderten sie dazu auf, eigene philosophische und spirituelle Traditionen zu reaktivieren, um diese Wunde wieder von innen zu heilen: "Es scheint mir, dass wir wirklich etwas vom Osten gelernt haben, wenn wir verstehen, dass die Seele genug Reichtümer enthält, ohne dass sie von aussen befruchtet werden muss." (C.G.Jung: Gesammelte Werke, Solothurn und Düsseldorf 1995, Bd.11, 485)

Jung hatte zwar nichts dagegen, z.B. Yoga-Übungen als "Hygiene" zuzulassen, war aber gegenüber der asiatischen Lehre der Ich-Überwindung äusserst skeptisch eingestellt. Der Europäer, der sich seiner Meinung nach noch gar nicht mit den Untiefen seines Ichs auseinandergesetzt hatte, sollte nicht wegwerfen, was er überhaupt noch nicht besass. Für Jung war Europa, anders als der Osten, durch eine weitgehend übergestülpte Christianisierung ein Kontinent der Abspaltung und Verdrängung geworden. Man habe den "heidnischen Barbaren" lediglich in ein dunkles Verlies gesperrt, um darüber eine glänzende Welt von "Kultur", "Rationalität" und "Moral" zu errichten, die aber auf schwankenden Füssen stünde.

Hexenjagd, Inquisition, nationalistische Obsessionen, Kriege und kolonialistischer Grössenwahn waren für Jung Beispiele dafür, wie sich der eingesperrte "Barbar" - das unintegrierte Irrationale, Unbewusste, auch Dämonische - immer wieder aus seinem Keller zurückmeldete und alle gloriosen Errungenschaften wie "Vernunft", "Bewusstsein" oder "Ichstärke" ad absurdum führte. Solange dieses so sei, könne man nicht einfach durch fernöstliche Atemübungen die "Entleerung" des Subjektes vorantreiben, sondern müsste erstmal eines schaffen, das seinen Namen auch wirklich verdient. Dies sollte jedoch über Denken und Bewusstheit geschehen, da der Westen diesbezüglich hochdifferenzierte Traditionen besässe, die nicht einfach durch Tranceerfahrungen oder Guruhörigkeit abzulösen seien: "Der Osten kam zur Erkenntnis innerer Dinge mit einer kindlichen Unkenntnis der Welt. Wir dagegen werden die Psyche und ihre Tiefe erforschen, unterstützt von einem ungeheuer ausgedehnten historischen und naturwissenschaftlichen Wissen." (Ges.Werke 13, 51)

Auch könnten - richtig verstandene - Werte der eigenen Religion dabei eine grosse Rolle spielen: "Der Westen wird im Laufe der Jahrhunderte seinen eigenen Yoga hervorbringen, und zwar auf der durch das Christentum geschaffenen Basis." (11, 539) Was Jung damit meint, macht er an einer anderen Stelle deutlich: "Erst auf der Basis einer solchen Einstellung, die auf keine in der christlichen Entwicklung erworbenen Werte verzichtet, sondern im Gegenteil mit christlicher Liebe und Langmut sich auch des Geringsten in der eigenen Natur annimmt, wird eine höhere Stufe von Bewusstsein und Kultur möglich werden." (13,55) Dazu bräuchte man also nicht unbedingt östliche Techniken, sondern einfach die Besinnung auf Verstecktes und Verlorenes in der eigenen Tradition: Für Jung zählten dazu auch die Alchemie, die mittelalterlichen Gralslegenden sowie die Lehren der deutschen Mystiker (Jakob Böhme, Meister Eckhart etc.), die übrigens auch das Mandala-Symbol verwendeten. Ebenso die von ihm erarbeitete Technik der "aktiven Imagination", mit der man - bei klarem Bewusstsein - in die Bilderflut sowohl des persönlichen als auch kollektiven Unbewussten hinabtauchen könne. Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen war für Jung von grösster Bedeutung: Bevor man nicht die "Macken" der eigenen Biographie aufgearbeitet und ausgehalten habe, dürfe man nicht in überpersönlich-metaphysische Welten abheben. Wer dies tue - und für Jung zählten viele Asienschwärmer dazu - drücke sich nur um sein eigene "dunkle Ecke" herum (11, 573).

Ganz ähnlich argumentierte der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, der in seinen Anfangsjahren noch Anhänger der vom Orient faszinierten "Theosophischen Gesellschaft" war, die er aber bald wieder verliess. Auch für ihn, der sich intensiv z.B. mit Goethe und dem deutschen Idealismus auseinandergesetzt hatte, war eine einfache Übernahme östlicher Weisheiten undenkbar, zumal sie Dinge voraussetzten, die im Westen längst überwunden waren, z.B. die Anbetung von spirituellen Meistern oder hellsichtig-somnambule Tranceerfahrungen, die das Ich abdämpften statt zu stärken. Bei allem Respekt vor den Hochkulturen Asiens war deren Philosophie für Steiner doch eher etwas Anachronistisches, das sich mit seiner Auffassung von Evolution nicht vertrug.

Denn in der geistigen Geschichte des Westens - so Steiner - habe man sich folgerichtig immer mehr der materiellen Welt zugewandt, um Ichkraft und Natrurwissenschaften zu entwickeln, beides höchstwichtige Elemente für folgerichtiges Denken und ein Handeln aus Freiheit. Daher sei es unzulässig, das irdisch-stoffliche Leben als Verursacher von Leiden zu diffamieren und per Meditation in die Leere des Nirwana zu flüchten. Nicht sollten Ich und Denken abgeschafft werden, sondern sich im Gegenteil zu mehr Kraft und Wahrnehmungsschärfe steigern, um illusionäre Aspekte der Realität zu durchstossen und zu tieferen, auch ganzheitlicheren Ebenen zu gelangen. Steiner sah daher z.B. im Buddhismus ein eher statisch-unhistorisches als dynamisch-entwicklungsbetontes Weltbild, das für frühere Zeiten wohl einmal funktioniert hatte, aber für die westliche Moderne nicht zu adaptieren war.

Zudem hatte in Europa das Christusereignis stattgefunden, das einen völlig anderen Gottesbegriff als den des Buddhismus einführte: Hier lächelte kein über den irdischen Abgründen thronender Buddha, sondern begab sich eine hohe Wesenheit mitten ins Leben der Menschen hinein, um deren Stofflichkeit, Zerrissenheit und Schmerz zu teilen. Dies war ein Jasagen zu Materie, Leid und individueller Existenz, nicht deren Verleugnung im Namen einer vermeintlich reinen Leerheit. Dieser "Christus-Impuls" war für Steiner ein wichtiger und nicht mehr rückgängig zu machender Entwicklungsschritt, auch wenn er die Exzesse und Grausamkeiten der abendländischen Kirchengeschichte aufs schärfste verurteilte (siehe dazu auch meinen Steiner-Essay in ATALANTE 5). Insofern gibt es hier auch interessante Berührungen zu C.G.Jung, der ja ebenfalls für den Westen eine Bewusstseinssteigerung durch die Errungenschaften von historischem und naturwissenschaftlichem Wissen sowie christlichen Werten fordert.

Steiner hegte Skepsis gegenüber der in asiatischen Religionen verbreiteten Atemübungen: Ihnen läge die in früheren Zeiten einmal gültig gewesene Auffassung zugrunde, dass der Mensch durch das Einatmen auch das Geistig-Beseelte der Aussenwelt in sich aufnehmen und sich zu neuer Einheit mit diesem verbinden könne. Längst aber sei die Verbindung zwischen Ich und Natur, menschlichem Geist und Kosmos zerfallen, was der Orient jedoch nicht wahrhaben wolle. Nun gelte es, sich auf neuen Wegen dem Geistig-Beseelten in Aussenwelt und Natur zu nähern, wobei die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Abendlandes von grosser Bedeutung seien. Der Westen, der hinter solche Errungenschaften nicht zurückfallen dürfe, müsse einen "neuen Jogawillen" ausbilden, eine neue Art des Pulsierens zwischen Innen und Aussen, die aber mehr mit Erkenntnis als mit Atmen zu tun habe. Das Denken müsse durch spezielle Übungen so verlebendigt werden, dass es hinter der äusseren Fassade der Dinge auch die geistigen Energien wieder wahrnehmen könne, etwa Formbildungsprozesse in der Natur oder karmische Gesetzmässigkeiten im menschlichen Lebenslauf. So entstünde eine neue Verbindung zwischen Einzelseele und "Weltseele", Ich und Natur, Geist und Kosmos, Innen und Aussen - quasi ein denkerischer Atemprozess auf höherer Stufe, der nicht in bewusstseinsmässig herabgedämpfte Stadien der Urzeit zurückfiele, sondern alle Errungenschaften des neuzeitlich wachen Ichs beibehielte. (Steiner: Die Sendung Michaels, Dornach 1997, 105ff).

Aus einem solchen Denken heraus entwickelte die Anthroposophie denn auch ökologische, kosmologische und heilkundliche Anschauungen, die wiederum fernöstlichen Lehren sehr nahekommen, aber gleichwohl immer auf europäisch naturwissenschaftlicher Basis stehen. Steiner glaubte wohl auch an Eingebungen durch "Götter" und "hohe geistige Wesenheiten", ja sprach gelegentlich sogar von "Hellsichtigkeit" und "übersinnlicher Erkenntnis". Aber er versuchte zeitlebens, solche Inspirationen mit der Empirie zu verbinden und durch das klare nachvollziehbare Denken laufen zu lassen. Dadurch - so sein Argument - wären bestimmte Negativerscheinungen östlicher Systeme wie Autoritätsgläubigkeit, okkulte Manipulationen, Ichschwächung etc. unmöglich. Wenngleich solche Dinge in den anthroposophischen Kreisen dennoch vorkommen, so sind dies eher menschliche Schwächen als Konsequenzen aus Steiners Lehre, die sich immer wieder scharf gegen Hörigkeit, mechanisches Nachbeten oder die unkritische Rezeption medialer Botschaften wehrt (siehe hierzu auch Gerhard Wehr: C.G.Jung und Rudolf Steiner, Zürich 1990, 193ff)

Leider erwähnen die Trimondis solche Argumentationsfiguren von Jung oder Steiner in ihrem Buch kaum, obgleich sie dadurch noch tiefere Kritikansätze hätten einarbeiten können. Trotzdem schliessen sie mit einer wichtigen und richtigen Feststellung, die auch diese beiden Denker geteilt hätten:

"Nicht dadurch, dass der Westen die Macht der Mythen leugnet, kann er sie überwinden. Er selber hat deren ungebrochene und gewaltige Präsenz auch in unserem Jahrhundert erleben müssen ... Nur wenn aufklärerisch orientierte Denker einen Einstieg in die Zentren der religiösen Kultmysterien wagen, und bereit sind, sich mit dem innersten Kern dieser Mysterien auseinanderzusetzen, wird es zu einer Entschärfung der 'religiösen Zeitbomben' kommen ... So absurd es klingen mag, der 'westliche Rationalismus' ist im eigentlichen Sinne die Ursache für den Okkultismus. Er drängt die esoterischen Lehren und ihre Praktiken ... in den gesellschaftlichen Untergrund, wo sie sich ungestört und hemmungslos ausbreiten können - bis sie dann eines Tages ... mit ungeheurer Gewalt hervorbrechen und die ganze Gesellschaft in ihren atavistischen Sog mit hineinziehen. Auf der anderen Seite macht der 'kritische Abstieg' in die Mysterienkulte der religiösen Traditionen wertvolle Lernprozesse möglich. Wir wollten ja mit unserer Analayse des buddhistischen Tantrismus nicht zu dem Schluss gelangen, dass alles an den traditionellen Religionen (im speziellen Fall am Buddhismus) zu verwerfen sei. Viele religiöse Lehrinhalte, viele Gesinnungen, Praktiken und Visionen scheinen bei der Errichtung einer friedvollen Weltengemeinschaft durchaus als wertvoll und sind sogar notwendig. Auch wir vertreten die Meinung, dass die 'Aufklärung' und der westliche 'Rationalismus' nicht mehr allein die Kraft haben, die Welt sinnvoll zu interpretieren, und schon gar nicht, sie zu verändern. Der Mensch lebt nicht vom Verstand allein! Die Welt des kommenden Jahrtausends ist deswegen unserer Sicht nach nicht zu entmythologisieren (nicht zu entzaubern oder zu re-rationalisieren), sondern der Mensch hat die Kraft, das Recht und die Verantwortung, die bestehenden Mythen, Mysterien und Religionen einem kritischen Untersuchungs- und Selektionsverfahren zu unterziehen." (792)


Juli 2002, ursprünglich erschienen in:
Atalante: Internet-Zeitschrift für Kunst, Mythologie und Geschichte
Ausgabe Nr. 7





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