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Neuer Aufbruch in Südamerika |
Die Siege, die linke Wahlbündnisse in der Mehrheit der Länder Südamerikas errungen haben, bilden ein auffälliges Phänomen, das verschiedenste Etiketten erhalten hat. Sehen manche einen neuen Aufbruch im Süden, wähnen andere Neopopulismus und autoritäre Tendenzen am Werk.
Es wäre falsch, alle Länder dieses neuen progressiven(1) Lagers in Südamerika über einen Kamm zu scheren. Dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die für das Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Prozesse in Südamerik fundamental sind.
Allen progressiven Regierungen ist die demonstrative Abkehr vom neoliberalen Modell gemeinsam. Tatsächlich sind sie eine Antwort auf das Scheitern beziehungsweise die Grenzen der neoliberalen Reformen in Südamerika, die die politische Agenda in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beherrschten. Eine Politik, die auf makroökonomische Stabilisierung plus Privatisierung abzielte, war offensichtlich nicht in der Lage, die soziale Situation der Armen zu verbessern und die extremen sozialen Ungleichheiten auszugleichen.
Allen progressiven Regierungen ist der Rückgriff auf eine aktivere Rolle des Staates gemein. Hatten die neoliberalen Reformen den Staat als Quell von Ineffizienz und Korruption ins Visier genommen, insistieren die neuen Regierungen auf eine aktive Rolle des Staates für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Emblematisch für den Subkontinent ist vielleicht das Sozialprogramm der Lula-Regierung in Brasilien, das eine allgemeine staatliche Hilfe für die Ärmsten der Armen etabliert hat («Bolsa Família») und damit in kurzer Zeit die extreme Armut deutlich senken konnte. Die Ansätze von Bolsa Família wurden in anderen Ländern (insbesondere Bolivien) kopiert. Alle progressiven Regierungen haben die Privatisierungen gestoppt und teilweise rückgängig gemacht. Aber das auffälligste und überraschend gemeinsame Phänomen dieser Regierungen ist vielleicht ihr anhaltender Erfolg. Alle progressiven Regierungen in Südamerika (mit Ausnahme des jüngsten Mitglieds im Club: Paraguay) sind inzwischen durch mindestens eine Wahl bestätigt worden, in der Regel ist ihre Popularität im Laufe der Regierungszeit eher gestiegen. Und schließlich sind alle progressiven Regierungen in der Popularität der Präsidenten verankert. Die Konzentration der demokratischen Legitimität in der Figur des Präsidenten ist ein Merkmal der politischen Kultur Südamerikas, das in den letzten zehn Jahren radikalisiert worden ist. Wahlen haben immer mehr plebiszitäre Züge über das in der Figur des Präsidenten verkörperte politische Projekt angenommen. Dies ist auch eine Antwort auf die Delegitimierung des politischen Systems, insbesondere der Parteien. In praktisch allen südamerikanischen Ländern sind die Möglichkeiten für die Wiederwahl des Präsidenten ausgebaut worden. Dies ist allerdings ein Trend, der nicht nur die progressiven Regierungen kennzeichnet. Mit der Konzentration auf die Legitimation durch die Wahl eines Präsidenten sind mehr oder weniger ausgeprägte autoritäre Tendenzen verbunden. Aber diese Prozesse sind sehr unterschiedlich, doch allgemein zeichnet die progressiven Regierungen keine große Liebe zum parlamentarischen System aus. Und die Presse, die oftmals in der Hand traditioneller Oligarchien ist und die progressiven Regierungen vehement bekämpft, wird oftmals eher als politischer Gegner wahrgenommen, denn als Garant demokratischer Rechte.
Diese komplexen Entwicklungen in Südamerika sind kaum mit einem Begriff zu fassen, auch wenn sich die Bezeichnung «Linksruck» wohl durchgesetzt hat. Man sollte sich aber davor hüten, sie allzu schnell für eigene Projektionen zu nutzen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den Chávez deklariert, eignet sich kaum für internationale Identifikationsprojekte – aber auf der anderen Seite sollten fragwürdige und skurril erscheinende Aspekte der Prozesse in Südamerika nicht dazu führen, den Neopopulismus vorschnell abzuschreiben. Sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) hat den progressiven südamerikanischen Staaten (mit Ausnahme Venezuelas) ein gutes Zeugnis ausgestellt und die relativ geringen Auswirkungen der Finanzkrise auf die Region hervorgehoben. Südamerika hat in der letzten Dekade ein anhaltendes Wirtschaftswachstum gehabt, das insbesondere in den Ländern des Linksrucks zu einer Verringerung der Armut geführt hat. Im Gegensatz zu einigen europäischen Ländern, die noch vor kurzem als Vorbild auch für Staaten der südlichen Hemisphäre gelobt wurden (zum Beispiel der «keltische Tiger» Irland) stehen nun Brasilien, aber auch Ecuador und Bolivien wie Musterknaben makroökonomischer Verantwortung da. Die systematische Reduzierung der externen Abhängigkeit und der Ausbau der regionalen Wirtschaftsbeziehungen waren hier offensichtlich eine erfolgreiche Strategie. Die Fortschritte der brasilianischen Regierung in der Armutsbekämpfung sind international stark beachtet worden, aber auch die Bilanz Boliviens kann sich sehen lassen. Die Nationalisierung der Gas-und Ölindustrie hat in kurzer Zeit (in den Jahren 2005 bis 2008) zu einer Verdreifachung des Staatshaushaltes geführt und ermöglichte die Durchführung von Sozialprogrammen für Familien mit Kindern und Alte. Aber auch das Pro-Kopf-Einkommen stieg im selben Zeitraum um mehr als 50 Prozent.(2) Allerdings sind die Erfolge nicht allein auf eine Wirtschaftspolitik zurückzuführen, die mit neoliberalen Rezepten bricht. Praktisch alle Länder mit progressiven Regierungen haben ihr Wirtschaftswachstum dem Preisanstieg für Rohstoffe und Agrarprodukte zu verdanken. Venezuela, Ecuador und Bolivien profitieren von Gas- und Ölexporten, Brasilien und Argentinien eher von der gestiegenen Nachfrage nach Soja und anderen Agrarprodukten. Um eine eindrucksvolle Zahl zu nennen: Die Exporte des Bergbausektors des erweiterten Mercosur (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay) stiegen nach Angaben der CEPAL von etwa 20 Mrd. US-Dollar im Jahre 2004 auf 46 Mrd. im Jahre 2007.
Eduardo Gudynas(3) hat daher mit Blick auf die Entwicklungen in Südamerika den Begriff des «Neo-Extraktivismus» in die Diskussion eingeführt – eine pointierte und treffende Charakterisierung der Ambivalenzen der progressiven Regierungen. «Neo» ist dabei durchaus wichtig: Die Erlöse des Mineralien- und Rohstoffbooms werden anders als vorher stärker vom Staat vereinnahmt und zur Finanzierung einer aktiven Sozialpolitik eingesetzt. Aber die Abhängigkeit von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen bleibt und ist gerade bei den progressiven Regierungen besonders akzentuiert.
Fußnoten
(1) Natürlich sind Bezeichnungen wie «linke» oder «progressive» Regierungen fragwürdig. Sie sind daher weniger als inhaltliche Zuschreibungen zu lesen denn als simple Kennzeichnungen, die sich eingebürgert haben. So verwendet zum Beispiel auch die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik der UN, CEPAL, den Begriff «progressive Regierungen».
(2) Ein guter Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung findet sich bei Weisbrot und Johnston (2009). Die Autoren kommen zu folgendem Resümee: «In the last four years, Bolivia has achieved its best growth in three decades. It has also launched some innovative anti-poverty programs.»
(3) Eduardo Gudynas ist Direktor des Lateinamerikanischen Zentrums für sozio-ökologische
Studien (CLAES) und ein einflussreicher südamerikanischer Intellektueller
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