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Buen Vivir - Annäherungen |
Buen Vivir – das gute Leben, das klingt vertraut. Aber gerade diese scheinbare Vertrautheit öffnet den Weg zu allzu leichten Missverständnissen. So ist für viele die Assoziation zum Dolce Vita naheliegend oder die Vermutung, dass es sich dabei nur um eine Neuauflage der Suche nach Lebensqualität handelt. Die südamerikanische Debatte um das Buen Vivir können wir aber nur verstehen,wenn wir den konkreten Kontext, aus dem sie entstanden ist, nicht ignorieren. Buen Vivir ist zutiefst in der indigenen, andinen Tradition verwurzelt. Dies erleichtert den Zugang nicht. Und noch etwas anders ist von grundlegender Bedeutung: Das Konzept sollte nicht unterschätzt werden, seine Komplexität ist beachtlich. Um das Buen Vivir hat sich insbesondere in Bolivien eine vielfältige und lebendige Debatte entfaltet, die in Europa kaum rezipiert wurde.
Wie jedes komplexe Konzept entzieht sich Buen Vivir einfachen Definitionen. Eduardo Gudynas weist zurecht darauf hin, dass Buen Vivir «ein Konzept in Konstruktion ist», das in unterschiedlichsten Kontexten keimt und das gerade durch seine Pluralität gekennzeichnet ist (Gudynas 2011, S.1) .
Die indigenen Traditionen erschweren ein unmittelbares Verständnis des Buen Vivir für diejenigen, die diese Traditionen nicht teilen. Aber die verfassungsgebenden Prozesse in Bolivien und Ecuador können auch als Versuch der Kommunikation zwischen indigenen und okzidentalen Konzepten verstanden werden. Schließlich besteht ja der Anspruch, indigene Konzepte in einen Staatsentwurf einzuspeisen.
Buen Vivir ist scharf abgegrenzt von der Idee des individuellen guten Lebens. Es ist nur im sozialen Zusammenhang denkbar, vermittelt durch die Gemeinschaft, in der die Menschen leben.
Buen Vivir bezieht aber auch das menschliche Naturverhältnis ein, es strebt die Harmonie mit der Natur an und verurteilt die übermäßige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Denn, so David Choquehuanca Céspdes, der Außenminister Bolivens, «die übertriebene und grenzenlose Industrialisierung durch die okzidentalen Akkumulationsmodelle bietet keine Lösung für die Menschheit» (Cespedes 2010, S.8).
Buen Vivir ist eine Kultur des Lebens, die auf dem ancestralen Wissen der indigenen Völker beruht, und zielt auf ein Gleichgewicht, das Harmonie zwischen Menschen und der Natur gleichermaßen anstrebt und die Rückkehr zu einer Seinsform beinhaltet, die durch die Kolonisation unterdrückt worden ist. «Wir müssen dazu zurückkehren, zu sein, weil die Kolonisation uns zu dem gemacht hat, was wir wünschen zu sein. Viele von uns wünschen zu sein, aber wir sind noch nicht. Jetzt wollen wir wieder auf unseren Weg zu unserem Sein zurückkehren» (ebd., S. 9).
Die Anerkennung der Pluralität der indigenen Gemeinschaften ist ein fundamentaler Baustein des Konzeptes. Buen Vivir ist eine Absage an kulturellen und juristischen Monismus. Es beruft sich auf die viel längere Tradition des indigenen Denkens gegenüber der christlich-okzidentalen Tradition, die als egozentrisch und eurozentrisch abgelehnt wird. «Es existiert nicht nur ein Paradigma, dieses universale Paradigma, das okzidental ist. Das okzidentale Denken annulliert die Existenz anderer Systeme» (Macas 2010, S. 15). Die Anerkennung des Anderen in der Konzeption der plurinationalen Staaten bezieht explizit auch nicht indigene Gruppen (Afrodeszendente, mestizische Bevölkerung) ein.
Das Buen Vivir gewinnt seine Kraft besonders durch die kritische Abgrenzung gegenüber dem okzidentalen Paradigma, das in eine Krise geraten ist. Für alle Vertreter des Buen Vivir ist es Teil eines Prozesses der De-Kolonisierung und der Schaffung einer neuen Hegemonie, die auf der Diversität der Kulturen aufbaut. Die Abgrenzung zur okzidentalen Tradition soll nicht einen neuen Monismus kreieren, sondern Pluralität zulassen. Dieses so fundamentale Bekenntnis zur Pluralität zeigt, dass es nicht um eine einfache Rückkehr zum ancestralen, zum traditionellen Denken gehen kann und soll. Bolivianische Intellektuelle wie Silvia Riveira Cusiqunqui, die sich selbst als Aymara und Europäerin definiert, und Javier Medina bringen das aymarische Konzept des «ch’ixi» ins Spiel: «Die Idee des ch’ixi folgt wie viele andere der aymarischen Idee, das etwas ist und zugleich nicht ist und also ein drittes einschließt ... Unsere Option für die Modernität fußt auf der Idee der ‹ciudadania›, die nicht die Homogenität, sondern die Differenz sucht» (Rivera Cusicanqui 2010) .
Für Javier Medina ist diese Fähigkeit, Gegensätze zuzulassen, fundamental, und er schlägt dabei eine Brücke zur Quantenphysik: «Beide, Entwicklung und Suma Qamaña [Aymara für Buen Vivir – T.F.] koexistieren gegensätzlich wie Schrödingers Katze; ihr Kollaps hängt von uns ab. Schließlich sind beide notwendig – um Hölderlin zu ziteren –, um ‹poetisch auf der Erde zu leben›» (Medina 2011).(12)
So führen also die Ausflüge ins Buen Vivir weit weg in die andine Welt, aber dann doch auch wieder zurück in westliche Debatten. Die andinen Denker kommunizieren durchaus mit anderen Kulturen und (dissidenten) Denkern des Westens. Bloch und Benjamin tauchen da ebenso auf wie Aristoteles und die «deep ecology» (s.u.).
Fußnoten:
(12) Stephen Hawking soll gesagt haben, dass er am liebsten zum Gewehr greifen möchte, wenn er «Schrödingers Katze» hört. Schrödinger wollte 1935 durch ein Gedankenexperiment deutlich machen, dass die Annahmen der Quantenphysik nicht auf die Objekte der Umwelt übertragbar sind. In der Quantenphysik ist es denkbar, dass etwas zugleich ist oder nicht ist, sie ringt mit Paradoxien und Dekohärenz, daher der Bezug, den aymarische Denker herstellen. Schrödinges gedankliche Katze ist zugleich tot und nicht tot. Aber Stephen Hawking muss die arme Katze Schrödingers nicht erschießen, um das Problem zu lösen. Schrödinger wollte gerade auf die Absurdität der Übertragung quantenphysikalischer Beobachtungen auf makroskopische Objekte hinweisen. Letztendlich kann die Katze wohl nicht zugleich tot und nicht tot sein. (Eine gute Darstellung findet sich bei Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Schr%C3%B6dingers_Katze )
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